Berit Jung Bassistin, Komponistin, Songpoetin

Blindgänger

ein Otto – Stotter-Text zum Thema Blindgänger

         Berit Jung

„Ich bitte sie, das ist doch lächerlich!“ Als er sich bückte, wirkte er in seinem langen grünen Mantel noch schmaler. „Ich bitte sie, lassen sie mich jetzt!“
Tastend schob er seine Fingerkuppen über den Asphalt. „ Aber ich könnte Ihnen doch wenigstens bei den 1 Centstücken behilflich sein…“
„Ich habe gesagt, sie sollen mich in Ruhe lassen! Erst rempeln sie mich an, als wollten sie …
ach, nun lassen sie doch endlich! Wer sagt ihnen denn, dass ich ihre Hilfe überhaupt benötige und außerdem,… Sie haben es eilig, also bitteschön, dann laufen sie doch weiter, dort entlang führt die Strasse.“
Zwei kleine blaugrüne Augen funkelten mich unter einer verrutschten dreckiggelben Binde an. Der alte Mann rückte die Binde wieder zurecht und begann über den Asphalt tastend die Münzen einzusammeln, die links von ihm verstreut lagen.
„Steht ihnen nicht, die rote Mütze“ murmelte er.
„ Moment“, ich wollt weitergehen, hielt aber inne, „Wieso schieben sie denn diese Binde über ihre Augen? Sie sind doch …“
„ … gar nicht blind… ja , ja , ich weiß! Ich will ihnen jetzt mal was sagen: Das geht sie alles überhaupt nichts an! Angerannt kommen, unbeteiligte Passanten anrempeln, dass ihnen ihre Geldbörse aus der Hand fällt und sich dann auch noch in fremde Angelegenheiten einmischen! Sie haben doch überhaupt keine Ahnung. Wie mich das nervt! Dieses Gehetze! Jeden Tag! “
Er richtete sich auf, holte tief Luft und sagte ganz leise, fast zärtlich „Sind sie jemals mit den Händen über den Asphalt gefahren? Haben sie sich mal die Zeit genommen, jeden kleinsten Huckel hier zu ertasten? Sehen sie?“
Er schob die Binde von den Augen, kratzte sich am Hinterkopf und betrachtete mich langsam von oben bis unten.
„Los, machen sie mal. Kommen sie, probieren sie es aus. Schließen sie dabei die Augen.“
Ich blickte mich um, aber es war niemand zu sehen. Kein Mensch weit und breit.Also bückte ich mich, schloss die Augen und wischte vorsichtig mit den Fingerkuppen über den Boden.
„So, und jetzt ein Stück weiter nach rechts!“ Der Alte nahm meine Hand und schob sie etwas zur Seite.
Ich zögerte kurz und dachte an den dicken Hund aus dem 3. Stock meines Hauses, beschloss dann aber dem Alten zu vertrauen und versuchte, mich ganz auf meine Finger zu konzentrieren.
„Und? Merken Sie etwas?“ Der Mann tänzelte erwartungsvoll von einem Bein auf das andere.
„ Nun, an dieser Stelle scheint der Boden etwas härter zu sein“ murmelte ich.
„Aber nicht nur das! Der Boden bildet ein völlig anderes Relief. Das hier ist eine ganz andere Art von Asphalt. Älter und grober. Und nun machen sie mal die Augen wieder auf.“
„Ich sehe aber gar keinen Unterschied. Beide Stellen sehen doch vollkommen gleich aus“ Langsam fragte ich mich, was das Ganze hier sollte. Ich richtete mich auf, um mich zu verabschieden. Zum Treffen kam ich nun sowieso schon zu spät.
„Aber genau das ist es doch!“ Der Alte stellte sich mir in den Weg.
„Verstehen sie denn nicht? Sie können den Unterschied nicht sehen, aber spüren, fühlen können sie ihn! Sehen sie, ohne diese Augenbinde wäre ich zu schnell. Zu schnell für mich. Was glauben sie, was ich in den letzten Monaten alles entdeckt habe! Gut, das wird sie jetzt nicht interessieren. Aber wissen sie was? Sie rennen mit sich selbst um die Wette. Und am Ende wenn sie gegen sich verloren haben- denn sie können nur verlieren – und völlig außer Puste sind, geben sie sich noch die Schuld dafür. Völlig absurd. Verstehen sie jetzt?“
Sein Gesicht war nun ganz nah an meinem.
„Ich verweigere mich der allgemeinen Geschwindigkeit, ziviler Ungehorsam sozusagen, wenn sie so wollen…“
Er trat einen Schritt zurück, fischte die Augenbinde aus seiner Jackentasche, schob sie über seine Augen, grüßte noch einmal, drehte sich um und folgte langsam tastend der Strasse.

 

 

 

 

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